Die Grundroutinen des räumlichen Denkens

Für die Entwicklung der räumlichen Denkenfähigkeit ist eine gute Ausprägung von zumindest drei Facetten essentiell:

  1. Sehvorgang
  2. Visuelle Wahrnehmung
  3. Raumvorstellungsvermögen

Diese drei Bereiche sind mannigfaltig eng miteinander verknüpft. Daher sollten alle drei Bereiche bei der Diagnose der räumlichen Denkfähigkeit betrachtet werden. Z. B. wirken sich Schwächen bei Aspekten des Sehvermögens oder der visuellen Wahrnehmung unmittelbar auf das Raumvorstellungsvermögen aus.

Das Konstrukt der menschlichen Fähigkeit zum räumlichen Denken beinhaltet also (1) das Sehrvermögen, (2) die visuelle Wahrnehmung und (3) das Raumvorstellungsvermögen. Zumeist zeigen sich räumliche Überlegungen in (fein)motorischen Handlungen (wie z. B. Stiegensteigen, Butter auf ein Brot streichen, mit einem Stift auf Papier schreiben). Aus diesem Grund wird der Bereich der visuomotorischen Koordination sinnvollerweise auch zum Gesamtkonstrukt des räumlichen Denkens hinzugezählt. Zum grundlegenden Thema räumliches Denken gibt es mehr unter Link.

Die in der Literatur vorliegenden diesbzgl. Modelle richten ihren Blick bislang entweder verstärkt auf den Sehrvorgang, die visuelle Wahrnehmung (für Kinder im Alter von ca. 3-12 Jahren) oder auf das Raumvorstellungsvermögen (für Jugendliche und Erwachsene im Alter von etwa 12 -99 Jahren). Alle drei Bereiche werden, unter anderem auch aufgrund der Fokussierung auf unterschiedliche Altersgruppen, im Allgemeinen bislang getrennt voneinander betrachtet.

Um diese Trennung zu überwinden, wurde ein zusammenführendes Modell der maßgeblichen Facetten des Sehvorgangs, der visuellen Wahrnehmung und des Raumvorstellungsvermögens entwickelt. Das Modell der Grundroutinen des räumlichen Denkens gliedert sich in acht Stufen. Die ersten fünf Stufen des Modells (Visualisierung, Formkonstanz, Raumlage, Raumtransformationen und Objektkombinationen) sind aufbauend zu verstehen und daher als gereihte Stufen zu erachten. Kinder und Jugendliche entwickeln grundsätzlich stufenweise aufbauend diese ersten fünf räumlichen Fähigkeiten. Die weiteren drei Grundroutinen (Dynamik, Feinmotorik und Räumliche Orientierung) sind von den ersten fünf Stufen ein Stück weit unabhängig und entwickeln sich in einem individuellen Tempo.

Die größten Entwicklungspotentiale für sämtliche Grundroutinen sind in den ersten etwa 13-14 Lebensjahren zu sehen. Bis zu diesem Alter ist bei Jugendlichen die räumliche Denkfähigkeit durchschnittlich zu etwa 80% entwickelt (Thurstone, 1955, zit. n. Rost, 1977). Aktuelle Ergebnisse von Studien zeigen, dass die räumliche Orientierung langsamer und über einen längeren Zeitraum wächst als andere räumliche Fähigkeiten (Wilhelm & Maresch, 2017). Das bedeutet, dass die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung mit etwa 14 Jahren zu deutlich weniger als 80% entwickelt ist und sich diese Fähigkeit erst bis zum Alter von etwas 25 Jahren zu etwa 80%-90% entwickelt hat (Wilhelm, 2017). 

Abbildung: Die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung (hier: die dicke blaue SO-Linie) entwickelt sich deutlich langsamer als alle anderen Teilbereiche des räumlichen Denkvermögens (hier: die dicke rote SA-Linie) (Wilhelm & Maresch, 2017)

In der Tabelle unten werden die einzelnen Grundroutinen kompakt vorgestellt. In den ersten beiden Spalten werden die Namen der Grundroutinen aufgelistet und es werden die zentralen Grundfunktionen der jeweiligen Grundroutine beschrieben. In der dritten Spalte werden Teilfähigkeiten der jeweiligen Routinen angeführt. Diese Beschreibung soll dazu dienen, die teilweise aufbauenden Unterstufen der Grundroutinen zu erkennen und die Zuordnung von Aufgaben und Übungen zu den einzelnen Stufen des Modells zu erleichtern. Die vierte Spalte stellt exemplarische Teilaspekte der einzelnen Grundroutinen vor bzw. zählt beispielhafte Übungen, Teilkompetenzen und Ausprägungen der Routinen auf. Dadurch sollen mithilfe der Tabelle zum einen die jeweiligen Grundroutinen inhaltlich gut erfasst und nachvollzogen werden können. Zum anderen ist die Abgrenzungen der Teilfähigkeiten einer Grundroutine zu den jeweils anderen deutlich zu erkennen.    

Grundroutinen Grundfunktionen Teilfähigkeiten Teilaspekte der Grundfunktionen
Visualisierung
Visualization
Relevante Facetten eines betrachteten Bildes filtern und fokussieren können Graphische Facetten einer Darstellung in gleicher Ansicht (im gleichen Riss) bzw. in gleicher Darstellungsform (z. B. Freihand-, Konstruktionszeichnung, Computerbild, Foto, reales Modell) erkennen können; grahische Facetten in unterschiedlichen Rissen und Darstellungsformen erkennen können Fokussierungsvermögen auf z. B. 2D- und 3D-Objekte, Farben, Formen, Muster, Größe, Helligkeit; Trennung von Hintergrund und Form; Trennung von irrelevanten und relevanten Bildinformationen
Formkonstanz
Form Constancy
Ebene und räumliche Objekte anhand derer Charakteristika erkennen können; gleichartige Objekte (z. B. Dreiecke, Würfel) erkennen und zeichnen können; Charakteristika von Objekten beschreiben können Gleichartige Objekte (wqie z. B. Dreieck, Würfel, Kugel) im gleichen Riss bzw. in gleicher Darstellungsform erkennen können; Objekte in unterschiedlichen Rissen und Darstellungsformen erkennen können; Objekte im gleichen Riss bzw. gleicher Darstellungsform erzeugen (zeichnen, skizzieren, konstruieren, …) können; Objekte in unterschiedlichen Rissen erzeugen können und in unterschiedliche Darstellungsformen übertragen können 2D und 3D Objekte an deren Charakteristika identifizieren können, selbst wenn sich Eigenschaften wie z. B. Farbe, Textur, Größe, Ansicht, Hintergrund, Riss und Darbietungsform ändern; alle Objekte sind dabei großteils zur Gänze sichtbar
Raumlage
Position in Space
Relative Positionen von ebenen und räumlichen Objekten zueinander erkennen können; ebene und räumliche Objekte an bestimmte Positionen relativ gegenüber anderen Objekten (links, rechts, oben, unten, vorne, hinten) positionieren können Positionen im gleichen Riss bzw. in gleicher Darstellungsform erkennen können (vorrangig oben/unten, vorne/hinten, links/rechts); Positionen in unterschiedlichen Rissen und Darstellungsformen erkennen können; Objekte im gleichen Riss bzw. gleicher Darstellungsform an passenden Positionen erzeugen (skizzieren, konstruieren, …) können; Objekte in unterschiedlichen Rissen und in unterschiedliche Darstellungsformen an passende Positionen übertragen können Vorne-hinten, rechts-links, oben-unten, horizontal-vertikal in unterschiedlichen Darstellungsform und Rissen erkennen können; Objekte an gewünschte Positionen (z. B. links von …, oberhalb von …, hinter …) in unterschiedlichen Rissen und Darstellungsformen platzieren können; teilweise verdeckte Objektteile in anderen Rissen und Darstellungsform wiedererkennen können
Raumtransformationen Transformation in Space Bezug zwischen Ausgangsobjekt und Zielobjekt erkennen können; Raumtransformationen Verschiebung, Drehung, Spiegelung, Skalierung) skizzieren und konstruieren können Raumtransformationen im gleichen Riss bzw. in gleicher Darstellungsform erkennen können; Raumtransformationen in unterschiedlichen Rissen und Darstellungsformen erkennen, skizzieren und konstrueiren können; Raumtransformationen in unterschiedliche Risse und in unterschiedliche Darstellungsformen übertragen können Drehungen, Schiebungen, Spiegelungen, Skalierungen von Objekten erkennen und in unterschiedlichen Rissen und Darstellungsformen skizzieren und konstruieren können
Objektkombinationen Object Combinations Ergänzungsteile, Objektschnitte und Boolesche Operationen (Vereinigung, Durchschnitt und Differenz) erkennen und erzeugen (skizzieren, konstruieren) können Objekte im gleichen Riss bzw. in gleicher Darstellungsform erkennen können; Objekte in unterschiedlichen Rissen und Darstellungsformen erkennen können; Objekte im gleichen Riss bzw. gleicher Darstellungsform erzeugen können; Objekte in unterschiedlichen Rissen erzeugen können und in unterschiedliche Darstellungsformen übertragen können Ergänzungsteile erkennen und erzeugen können; Objektschnitte erkennen und erzeugen können; Boolesche Operationen erkennen, skizzieren und konstruieren können; jeweils in unterschiedlichen Rissen und Darstellungsformen; teilweise abgedeckte Objekte erkennen können; Objektteile sind teilweise nicht sichtbar;
Dynamik
Dynamic
Bewegte Objekte bei ruhender/ruhendem BeobachterIn verfolgen können; Bewegungsverläufe antizipieren können Standbilder in korrekte Reihenfolge bringen können Bewegte Objekte ohne Szenenhintergrund verfolgen können; bewegte Objekte mit Szenenhintergrund verfolgen können und Vorhersagen über Bahnverläufe (z. B. Eintreffen am Ziel oder bei einer Kreuzung) machen können; aktiv Objekte in Bewegung versetzen können, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Ziel erreicht haben sollen Bildsequenzen einer dynamischen Szene in richtige Reihenfolge bringen können (z. B. von außen beobachtete Karussellfahrt); Bewegung von ein, zwei, drei oder mehreren Objekten verfolgen können; Treffpunkte der bewegten Objekte bei schneidenden Bahnen antizipieren können; aktiv Objekte in Bewegung bringen, sodass diese zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Ziel erreichen oder ein anderes bewegtes Objekt treffen   
Feinmotorik
Fine Motor Skills
Auge-Hand Koordination Reale Objekte zu bestimmten Positionen bewegen können; Bahnverläufe und Linien mit einem Stift nachfahren können; Freihandzeichnungen anfertigen können; beidhändig Zeichnen können Reale Objekte zu bestimmten Positionen bewegen können; horizontale und vertikale Strecken zeichnen können; bei einem Punkt starten können und innerhalb vorgegebener Bahnverläufe Linien ziehen können; bei einem Ziel stoppen können
Räumliche Orientierung Spatial Orientation Sich räumliche Szenen aus anderen Positionen vorstellen können; nach Bewegungen in realen Umwelten Positionen und Distanzen von und zu Objekten abschätzen können     Mentale Positionswechsel durchführen können (z. B. sich räumliche Szenen aus anderen Positionen vorstellen können); Distanzen und Abstände in realen Umgebungen bei Bewegung der Beobachterin/des Beobachters abschätzen können AufgabenlöserIn wechselt mental die Position und kann sich Szenen aus anderen Blickwinkeln mental vorstellen; BeobachterIn ist real in Bewegung und bestimmt danach Distanzen und Winkel zu Objekten

Das Modell der acht Grundroutinen des räumlichen Denkens beachtet die Kompetenzmodelle der Geometrie (Kraker et al., 2019 in einer Weiterentwicklung von Mick et al., 2012), berücksichtigt aktuelle neurologische Erkenntnisse (z. B. Hafting et al., 2005), zeigt deutliche Verknüpfungen zu den fünf Stufen der visuellen Wahrnehmung von Frostig (1964, 1979) und integriert die relevanten faktorenbezogenen Ergebnisse der Raumintelligenzforschung (z. B. Maier, 1994; Hegarty & Waller, 2005; Maresch, 2014, 2015a, 2015b). Neurologische Erkenntnisse bzw. Hinweise zum Sehrvorgang, zur visuellen Wahrnehmung, zur Raumvorstellung und zu visuomotorischen Bewegungen wurden bei der Entwicklung des Modells ebenfalls beachtet (Moser et al., 2014; Nänni, 2008).

Querverbindungen des Raumvorstellungsvermögens und der visuellen Wahrnehmung zu anderen Fähigkeiten und Fertigkeiten, wie z. B. der mathematischen Leistung bzw. dem Schreiben wurden und werden in diversen Studien untersucht (z. B. Cheng & Mix, 2013). Bezüge der Grundroutinen des räumlichen Denkens mit dem Schreiben und Lesen werden in der folgenden Tabelle formuliert und zeigen dabei die teilweise vielschichten und engen Verknüpfungen der räumlichen Denkfähigkeit mit anderen menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Grundroutinen
Visualisierung Buchstaben vor einem Hintergrund erkennen können (z. B. auf Plakaten)
Formkonstanz Unter Anderem zum Erkennen von Buchstaben generell und in unterschiedlichen Schriftarten
Raumlage Reihenfolge der Buchstaben in Wörtern erkennen können
Raumtransformation Unter Anderem wichtig für die Unterscheidung zwischen b und d, m und w oder p und q 
Objektkombinationen   Wortblöcke erkennen können (z. B. Abkürzungen, Verbindungen)
Dynamik Laufschriften lesen können (z. B. auf Bildschirmen digitaler Geräte, Bahnhöfen, Kino, öffentliche Verkehrsmittel)
Feinmotorik Grundlegend für die Tätigkeit des Schreibens
Räumliche Orientierung z. B. verkehrt geschriebene Wörter korrekt lesen können

Die Arbeit mit dem Modell soll es Lehrenden in allen Bildungsbereichen und Altersstufen ermöglichen und erleichtern, die Fähigkeiten der Lernenden im Bereich des Sehvermögens, der visuellen Wahrnehmung und des Raumvorstellungsvermögens übergreifend und aufbauend strukturiert zu diagnostizieren und zu fördern. Die gezielte Stärkung aller acht Grundroutinen des räumlichen Denkens wird durch spezielle Übungsaufgaben, die die einzelnen Grundroutinen adressieren, konkret gefördert. Seit der Entwicklung dieses hier vorgestellten Modells wurden speziell abgestimmte Übungsaufgaben im Kontext der acht Grundroutinen zusammengestellt und in der Lernplattform RIF 3.0 (RaumIntelligenzförderung 3.0: https://adi3d.at/rif30/) frei zugänglich gemacht. RIF 3.0 ermöglicht es, die konkreten individuellen Ausprägungen der einzelnen Grundroutinen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu diagnostizieren und zu fördern. Dadurch ist es möglich, Stärken und Schwächen auf den einzelnen Stufen zu erkennen und gezielt mit den angebotenen Lern- und Fördermaterialien zu stärken.

Anmerkung: Es sei angemerkt, dass die vorliegenden (zumeist faktorenbasierten) Modelle des Raumvorstellungsvermögens systhematisch und wissenschaftlich zumeist korrekt und stimmig formuliert sind, dass aber oftmals konkrete räumliche Übungen nicht trennscharf konkreten Teilbereichen dieser Modelle zugeordnet werden können. Es ist daher keine Seltenheit, dass unterschiedliche Facetten des räumlichen Denkens als Bestandteil mehrerer Teilbereiche auftreten können. Z. B. ist das Vermögen, räumliche Objekte mental rotieren zu können, naheliegenderweise Bestandteil des Teilbereichs Mentale Rotation, aber zudem können auch bei den Beschreibungen zu den Teilbereichen Veranschaulichung/räumliche Visualisierung und Räumliche Beziehungen Facetten gefunden werden, wo es um Drehungen (Rotationen) von räumlichen Objekten geht. Oft hängt es dabei davon ab, mit welcher individuell unterschiedlichen Strategie Lernende an räumliche Aufgaben herangehen und diese lösen.

Literatur:

Cheng, Yi-Ling, & Mix, Kelly S. (2013). Spatial Training Improves Children’s Mathematics Ability. Journal of Cognition and development, 15(1):2–11, Taylor & Francis Group, LLC, https://doi.org/10.1080/15248372.2012.725186.

Frostig, M. (1979). Visuelle Wahrnehmungsförderung. Hannover: Schroedel.

Frostig, M., & Horne, D. (1964). The Frostig program for the development of visual perception: Teachers’ guide. Chicago: Follett Educational Corp.

Hafting, T., Fyhn, M., Molden, S., Moser, M.-B., & Moser, E. I. (2005). Microstructure of a spatial map in the entorhinal cortex. Nature, Vol 436/11, 801-806, https://doi.org/10.1038/nature03721.

Maier, H.P. (1994). Räumliches Vorstellungsvermögen: Komponenten, geschlechtsspezifische Differenzen, Relevanz, Entwicklung und Realisierung in der Realschule. In Europäische Hochschulschriften: Reihe 6, Psychologie, Band 493.

Moser, E. I., Roudi, Y., Witter, M. P., Kentros, C., Bonhoeffer, T., Moser, M. B. (2014). Grid cells and cortical representation. Nature Reviews Neuroscience. 15(7):466-481.

Nänni, J. (2008) Visuelle Wahrnehmung: Eine interaktive Entdeckungsreise durch unser Sehsystem. Salenstein (CH): Niggli Verlag.

Rost, D. H. (1977): Raumvorstellung. Psychologische und pädagogische Aspekte, Beltz, Weinheim

Thurstone, L. L. (1955). The differential growth of mental abilities. Chapel Hill, North Carolina: Univ. of North Carolina Psychometrie Laboratory, No. 14.

Wilhelm, M., & Maresch, G. (2017). Wie ausgeprägt ist meine räumliche Orientierungsfähigkeit? Entwicklung des neuen Messverfahrens SMART durch reale Bewegung im Raum. Informationsblätter der Geometrie (IBDG), 36(1) , 21-23, Innsbruck.

Wilhelm, M. (2017). „Spatial Move ARound Test“ (SMART) – Entwicklung eines Tests zur Untersuchung der räumlichen Orientierungsfähigkeit von Individuen. Diplomarbeit, Universität Salzburg.