Räumliches Denken

Der Begriff „räumliches Denken“ (im Englischen zumeist als spatial thinking bezeichnet, manchmal auch spatial skills bzw. spatial ability) wird als Überbegriff für die diversen Begriffe wie Raumdenken, Raumvorstellung(svermögen), visuelle Wahrnehmung, räumliche Wahrnehmung, Raumwahrnehmung, Raumintelligenz und zumal auch Sehvermögen verwendet. Die Analyse der Beschreibungen und Definitionsversuche der erwähnten Begriffe zeigt (vgl. etwa Hegarty, 2010; Maier, 1994), dass diese oftmals von unterschiedlichen Personen und Wissenschaftsgebieten deutlich unterschiedlich beschrieben und verwendet werden. Die obigen Unterbegriffe sind nicht als Synonyme für den Begriff räumliches Denken zu verstehen, sondern beziehen sich im Allgemeinen auf spezifische räumliche Teilfähigkeiten, die in unterschiedlichen Kontexten in der Literatur oftmals unterschiedlich beschrieben und verwendet werden.

Als verbindender, gemeinsamer Übergriff für die menschliche Fähigkeit, vom Auge empfangende optische Reize anatomisch ins Gehirn leiten zu können, diese sinnvoll interpretieren zu können und daher räumliche Objekte als diese erkennen zu können, sich räumliche Objekte mental vorstellen zu können (mit oder ohne vorherige optische Reize), diese gedanklich manipulieren (drehen, spiegeln, schieben, skalieren, …) zu können, sich rein in der Vorstellung an unterschiedliche Positionen im Raum versetzen zu können, Bewegungsabläufe wahrnehmen und interpretieren zu können und (fein)motorische räumliche Bewegungen ausführen zu können, wird der Begriff räumliches Denken verwendet.

Räumliches Denken baut oftmals auf (1) optische Sinneseindrücke auf und beinhaltet die anatomische und basal-kognitive Fähigkeit zur (2) visuellen Wahrnehmung, die rein gedankliche Fähigkeit zur (3) Raumvorstellung und schließlich die entsprechenden (4) (fein)motorischen räumlichen Abläufe. 

Abbildung: Die Struktur der räumlichen Denkfähigkeit (Maresch, 2021)

Der Überbegriff räumliches Denken beinhaltet somit zumindest folgende Fähigkeiten:

  • Empfangen des optischen Reizes (über das Auge) und weiterleiten über diverse Stationen bis hin zum Gehirn
  • Grundlegende Interpretation des optischen Reizes und kognitiver Abgleich des optischen Reizes mit Erfahrungen auf den diversen Stationen vom Auge bis hin zum Gehirn und damit schließlich die Fähigkeit, räumliche Objekte „Erkennen“ bzw. „Kennenlernen“ zu können
  • Planen und Durchführen von (fein)motorischen Reaktionen auf optische Reize (siehe zu den ersten drei Listenpunkten auch Abbildung 6)
  • Rein gedankliches Vorstellen von räumlichen Objekten (ohne vorherigen optischen Reiz)
  • Rein gedankliches Manipulieren von räumlichen Objekten (drehen, schieben, spiegeln, skalieren, …)
  • Sich rein gedanklich an andere Positionen im Raum versetzten zu können

Begriffserläuterungen

In der Literatur sind zahlreiche Begriffe rund das Themenfeld räumliches Denken in Verwendung. Jeder dieser Begriffe beschreibt eine bestimmte Facette (spezifische Fähigkeit, konkretes Phänomen, …). Oftmals ist zu bemerken, dass diese Begriffe salopp verwendet, sehr offen und breit beschrieben bzw. großzügig behandelt werden. Die nachfolgenden Begriffserläuterungen einiger der häufig verwendeten Begriffe in Bezug auf räumliches Denken soll die Spezifika der einzelnen Begriffe hervorheben und dadurch die korrekte Verwendung ermöglichen. 

Raumdenken, Raumintelligenz

Beide Begriffe sind Synonyme für den Begriff räumliches Denken. Beide Begriffe werden in der internationalen Literatur selten verwendet. Es sind daher auch keinerlei konkrete Definitionen bzw. Beschreibungsversuche bekannt. Entsprechend der Verwendung der Begriffe im Kontext ist zu erkennen, dass die Begriffe Raumdenken und Raumintelligenz sehr großzügig zahlreiche Facetten des räumlichen Denkens beinhalten und dass diese daher auch als Synonyme zum Begriff räumliches Denken zu verstehen sind. 

Raumvorstellungsvermögen (kurz: Raumvorstellung)

Das Raumvorstellungsvermögen ist die Fähigkeit eines Individuums, sich räumliche Objekte mental vorstellen zu können, diese rein gedanklich manipulieren (schieben, skalieren, drehen, spiegeln, …) zu können, Relationen zwischen mehreren räumlichen Objekten erkennen zu können und sich rein in der Vorstellung an unterschiedliche Positionen im Raum versetzen können (also sich den Raum aus anderen Perspektiven vorstellen zu können). Raumvorstellung(svermögen) ist daher eine reine kognitive Leistung und inkludiert keinerlei reale Tätigkeiten (wie reales Betrachten von räumlichen Objekten, Empfangen von optischen Reizen oder Durchführen von (fein)motorischen Bewegungsabläufen).

Raumwahrnehmung

Das Gehirn verfügt über zahlreiche kognitive Möglichkeiten, aus dem zweidimensionalen Bild des optischen Reizes auf die Retina (=Netzhaut, Innenwand des Auges) ein räumliches, dreidimensionales Abbild interpretieren zu können. Diese Fähigkeit, die Raumwahrnehmung genannt wird, entsteht durch das Zusammenspiel einer Vielzahl von unterschiedlichen Interpretationen der visuellen Wahrnehmung, wie z.B. monokulares/binokulares Sehen, Farbinterpretationen, vertraute Größe, Überlappungen, Schatten, Texturdichte, Querdisparität, Muskelbewegungen der Linse, Bewegungsparallaxe und inkludiert dabei auch die Reize und Eindrücke weiterer Sinnesquellen (z.B. Kinästhetik, Hören).

Räumliches Denken

Als verbindender, gemeinsamer Übergriff für die menschliche Fähigkeit, vom Auge empfangende optische Reize ins Gehirn leiten zu können, diese interpretieren zu können und daher räumliche Objekte erkennen zu können, sich räumliche Objekte mental vorstellen zu können (mit oder ohne vorherige optische Reize), diese gedanklich manipulieren (drehen, spiegeln, schieben, skalieren, …) zu können, sich rein in der Vorstellung an unterschiedliche Positionen im Raum versetzen zu können, Bewegungsabläufe wahrnehmen und interpretieren zu können und (fein)motorische räumliche Bewegungen ausführen zu können, wird der Begriff „räumliches Denken“ verwendet. Räumliches Denken baut oftmals auf optische Sinneseindrücke auf und beinhaltet die anatomische und basal-kognitive Fähigkeit zur visuellen Wahrnehmung, die rein gedankliche Fähigkeit zur Raumvorstellung und schließlich die entsprechenden (fein)motorischen räumlichen Abläufe. 

Räumliche Wahrnehmung

Fähigkeit zur Bestimmung räumlicher Verhältnisse in Bezug zum eigenen Körper. Die Vertikale und Horizontale hat in diesem Kontext eine Sonderstellung. Linn und Petersen (1985) schreiben dazu: „… subjects are required to determine spatial relationships with respect to the orientation of their own bodies …”). Guilford (1964) formuliert: „Ein dritter Faktor “Space III” … erscheint ein Vermögen zur Orientierung in der Schwerkraftrichtung (der Vertikalen) anzudeuten.“ Und weiters, dass  „… der Space III-Faktor von der Schwerkraftwirkung auf den Organismus und der gelernten Fähigkeit, sie richtig zu interpretieren, abzuhängen scheint.“ und als „kinästhetischer Systemfaktor“ gedeutet werden kann. Räumliche Wahrnehmung ist daher als anatomisch-kinästhetische Fähigkeit eines Individuums zu sehen, speziell die Vertikale in Bezug zur Lage des eigenen Körpers erkennen zu können. Sie stellt daher die Fähigkeit eines Individuums dar, die Lage des eigenen Körpers in Bezug zur Umwelt erkennen zu können.      

Visuelle Wahrnehmung

Bei der visuellen Wahrnehmung geht es in einer Vorstufe (zum reinen kognitiv-gedanklichen Operieren mit räumlichen Objekten) um die anatomische Aufnahme und basal-kognitive Verarbeitung optischer Reize. Es werden dabei die über das Auge empfangenen optischen Reize vom Gehirn bzw. dessen vorgelagerter Areale gefiltert und relevante Informationen extrahiert und interpretiert. Diese anatomischen und basalen kognitiven Schritte ermöglichen schließlich im Gehirn das „Erkennen“ von räumlichen Objekten durch Abgleich mit Erinnerungen bzw. „Kennenlernen“ von noch unbekannten räumlichen Objekten.

Ausführlichere Informationen zum Thema räumliches Denken können unter https://eplus.uni-salzburg.at/ibdg/periodical/titleinfo/6216903 nachgelesen werden.

Literatur:

Hegarty, M. (2010). Components of Spatial Intelligence. Psychology of Learning and Motivation, Volume 52. Elsevier Inc.. DOI: 10.1016/S0079-7421(10)52007-3.

Linn, M. C. & Petersen, A. C. (1985): Emergence and characterization of sex differences on spatial ability: a meta-analysis. Child Development, 56, 1479-1498.

Maier, H. P. (1994). Räumliches Vorstellungsvermögen: Komponenten, geschlechtsspezifische Differenzen, Relevanz, Entwicklung und Realisierung in der Realschule. In Europäische Hochschulschriften: Reihe 6, Psychologie, Band 493.

Maresch, G. (2021). Räumliches Denken. Informationsblätter der Geometrie (IBDG) . 1/2021, 40. 23-36. doi: https://doi.org/10.25598/ibdg/2021-1-7 und https://www.researchgate.net/publication/354694955_Struktur_des_Raumlichen_Denkens